Warum die Flüsse
nach Osten fließen

In der Injipoga, unserer Mutter Erde, gibt es viele Wasser, und sie alle fließen durch das Wao Omae, das Land unserer Väter und Großväter. Und um Injipoga herum sind die Naenaetibae, die Großen Wasser, durch die man nicht hindurchkommt. Und sie alle fließen von Westen nach Osten, dorthin, wo Naenqui, unser guter Vater Sonne, geboren wurde und unermüdlich kehren die Wasser dorthin zurück, wo sie geboren wurden, genau wie wir eines Tages dorthin zurückkehren, wo wir einst hergekommen sind.
Alle Flüsse, alle Bäche bekommen ihre Kraft von Yaedaecapae und Yaewaino, dem westlichen und dem östlichen Ende der Welt, und sie alle fließen an den Ort zurück, an dem sie geboren wurden. Und sie alle fließen aus Injipoga heraus, wo sie sich in Wolken verwandeln und als Wolken fliegen sie um die Welt herum und sie werden neu geboren und als gewaltiger Wasserfall kehren sie im Westen zurück zu Injipoga.
Aber tief unten unter dem Wasser liegt Tadamingadaengepo, die Unterwelt, und ein großer Strudel, der von zwei Delphinen bewacht wird, ist der Eingang. Doch Tadamingadaengepo ist heimtückisch, und die Tür zu ihr verschiebt sich mal hierhin und mal dorthin. Drum hüte Dich vor dem großen Strudel, denn sonst kommst Du in die Unterwelt, aus der es kein Zurück gibt, es sei denn, Du hast das Wissen des Shamanen.
Aber in Tadamingadaengepo haben die Menschen keinen Mund, sie sind stumm wie die Fische um sie herum und sie können nicht einmal mehr um Hilfe rufen. Darum hüte Dich vor dem großen Strudel, mein Sohn, und vor den zwei Delphinen, denn sonst bist Du für immer verloren.

Anmerkungen:
Diese Geschichte erscheint auf den ersten Blick etwas „wirr" und ich muß zugeben, daß ich sie auch nicht in allen Einzelheiten verstanden habe. Fest steht, daß die Erde nach Huaorani-Vorstellung eine Scheibe ist, und über dieser Scheibe liegt der Himmel wie eine große Glocke. Mit „Yaedaecapae" ist der Rio Alto gemeint, mit „Yaewaino" der Rio Bajo. Diese beiden Flüsse liegen ziemlich genau am westlichen bzw. östlichen Ende des traditionellen Huaorani-Territoriums und sind zu tief, um noch durchwatet werden zu können. Für die Huaorani, die das Schwimmen erst von den Weißen gelernt haben, konsequenterweise die Enden der Welt.

Ich habe lange über diese Geschichte nachgedacht und ein paar Schlußfolgerungen gezogen:
Der Sinn dieser Geschichte ist eine Warnung untereinander, sich vor Strudeln und Stromschnellen in Acht zu nehmen--für Nichtschwimmer natürlich auch bei relativ niedrigen Flüssen eine ernste Gefahr. Da man vermutlich die Leichen von Ertrunkenen häufig nicht mehr ausfindig machen konnte, kam man eventuell zu der Vorstellung, daß sie in eine andere Welt unterhalb der eigenen „eingetaucht" sind, und weil man unter Wasser schlecht um Hilfe rufen kann, haben die Leute der Unterwelt vermutlich auch keinen Mund. Es könnte allerdings auch sein, daß es einfach eine Aufforderung ist, den Atem anzuhalten, wenn man unter Wasser gerät. Ich werde versuchen, diesen Punkt noch abzuklären. Die hier aufgeführten Gedanken sind also mehr oder weniger meine Spekulation.