Das Jaguar-Mädchen

Einmal gebar eine Mutter ein kleines Mädchen auf einem Urwaldpfad, auf dem sie wanderte. Sie lief zum Fluß, um etwas Wasser zu holen und das Neugeborene damit zu waschen und ließ das Kind zurück. Während sie weg war, kam ein Jaguar und nahm das Baby mit. Als er mit dem Kind zurück zu seiner Höhle kam, fragte ein anderer großer Jaguar ihn: „Was für ein Tier bringst Du denn da?"
„Es ist ein Huaorani Baby. Ich werde es essen."
„Du ißt die Placenta und ich werde das Kind nehmen.", sagte der andere große Jaguar.

So geschah es und das kleine Huaoranikind war gerettet und wuchs mit rohem Fleisch auf, das ihm der große Jaguar zu essen gab. Ihre Zähne wurden davon so groß wie die des Jaguars. Und als sie groß war, fragte sie nach ihrer Mutter.
„Du warst ein Huaorani-Kind", erzählte ihr der Jaguar. „Ich nahm Dich, als Du geboren wurdest, mit mir. Ich wollte Dich für meine Frau, wenn Du groß genug bist."
„Ich möchte gehen und meine menschliche Mutter sehen", sagte das Huaorani-Mädchen.
Also verwandelte sich der Jaguar in einen Huaorani und zusammen gingen sie, die menschliche Mutter des Kinds zu besuchen.
Sie überraschten die wahre Mutter des Kindes, die dachte, ihr Mädchen sei von einem Jaguar gefressen worden. Später ging die Mutter mit ihrer Tochter zu der Höhle des Jaguars. Sie aß etwas rohes Hirschfleisch, woran sie schließlich starb.

Das Huaorani-Mädchen aber bekam sieben Söhne, die aufwuchsen wie normale Huaorani. Dann, eines Tages, starb der Jaguarvater. Die Söhne bestellten ihre Cassava-Felder und ihre Mutter besuchte sie auf den Feldern, auf denen sie arbeiteten.

Wann immer sie aber einen guten Menschen zum Essen sah, sagte sie: „Der da hat viel Fett", und mit ihren Jaguarzähnen biß sie seinen Kopf ab und kochte das Fleisch für ihre Söhne. Sie tat dies viele Male und schließlich wurde sie von den Huaorani gespeert. Die aber, die sie gespeert hatten, schnitten ihren Kopf ab und warfen ihn in den Boden des Topfes und kochten ihn dort. Als die Söhne abends von ihren Feldern zum Essen heimkamen, aßen sie den Eintopf, den man ihnen vorsetzte. Aber schließlich bemerkten sie, daß sie ihre eigene Mutter gegessen hatten. Sie erkannten sie an ihren großen Jaguarzähnen.

Sie sagten zueinander: „Nun werden wir selbst gespeert werden!" und sie rannten hinunter zum See, um auf die andere Seite zu entkommen. Aber sie wurden von den Alligatoren in dem See gebissen. Endlich am anderen Ufer angekommen, schafften sie es, sich an Land zu schleppen und erholten sich auf dem Sandstrand. Sie machten sich Speere und stachen sie in den Himmel, der in jenen Tagen noch sehr nahe über der Erde stand. Sie zogen sich an ihren Speeren in den Himmel hinauf und Gott verwandelte sie in Sterne -- in das Sternenbild des Pleiades. Und dort kannst Du sie nun sehen, und deswegen nennen wir ihr Sternbild „Die von den Alligatoren gebissen wurden".

Anmerkungen:
In dieser Geschichte kommt das Verhältnis der Huaorani zum Jaguar zum Ausdruck, der wegen seiner Gefährlichkeit geachtet, gefürchtet und gehaßt wird. Gleichwohl ist das Herz des toten Huaorani ein Jaguar und sich selbst bezeichnen sie als „Krieger des Jaguars".
Ähnliche Geschichten gibt es nebenbei bemerkt auch bei anderen Stämmen am Amazonas, und selbst in deutschen Legenden werden schließlich Menschen von Wölfen aufgezogen... Zufall oder frühe Evolutionstheorien?